DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG

DAS GESPENST DER NORMALITÄT

Von Saara Turunen
Regie: Saara Turunen
Premiere: 11. September 2021
ROLLE: MANN 1 (Vater, Beschwichtiger, Pfarrer, Wolf, Mann an der Haltestelle, Mann im Nachtleben, Massenmörder, Kind, Gast auf einer Beerdigung)

Ein Mann, so hellhaarig und hellhäutig, dass man ihn am liebsten als Albino bezeichnen würde, liest eine Traueranzeige vor. So beginnt das Stück. Der „Albino“ wird von einer Frau gespielt. Seine Identität passt in keine Schublade. In der letzten Szene werden wir seine Beerdigung sehen, in der er offen fragt, warum niemand so schöne Dinge wie in der Trauerrede zu ihm gesagt habe, als er noch am Leben war.

Figuren wie er tauchen auf und ab und wieder auf in dem sonderbaren Szenenreigen Das Gespenst der Normalität der finnischen Autorin und Regisseurin Saara Turunen. Der Titel ist inspiriert von Luis Buñuels Film Das Gespenst der Freiheit. Wo der Film die gesellschaftliche Freiheit in surrealistischen Episoden untersucht, bohrt sich das Theaterstück in unsere Vorstellungen vom Normalen und Alltäglichen. Es erzählt von der Sehnsucht nach dem Gewohnten, aber auch von der Bedrohlichkeit des Andersseins, der Angst, sich von der Menge abzuheben.

Minimalistische Szenen, ruhig, manche ganz ohne Sprache, versehen mit einem feinen Humor, fügen sich nahtlos aneinander und entwickeln einen fast filmischen Sog: eine Familie beim Fernsehen, eine kleine Hochzeitsfeier, eine Frau, die Vokabeln lernt, eine Frau beim Paartherapeuten, Schulkinder im Chorunterricht oder junge Männer in einem Nachtclub. Doch diese Idyllen haben feine Risse: Die Welt ist in diesem Stück ein Durchgangszimmer, in dem jede und jeder zu Hause und auch wieder fremd ist. Diese Menschen haben Wünsche und Ängste; sie wollen dazugehören, nicht auffallen, sich frei entfalten oder andere in ihre Schranken weisen. Saara Turunen, Jahrgang 1981, erzählt hiervon in einer ganz eigenen Theatersprache, die eine Entdeckung im deutschsprachigen Theater ist. Sie verfremdet das Gewöhnliche, indem sie eine absurde Welt aus traumartigen Bildern erschafft. Fast so, als wären die skurrilen Melancholiker aus den Filmen von Roy Andersson oder Aki Kaurismäki in die klaustrophobischen Kunst-Tableaus einer Theateraufführung von Susanne Kennedy geraten. Wie das aussieht? Jedenfalls alles andere als normal.


MICHAEL SAUP